Die Lippen aufeinandergepresst, eine steile Falte zwischen den Brauen, fixiere ich dich. Tunnelblick, ich sehe nichts anderes. Alles rot! ROT nicht rosa! Ein gezielter Schlag auf die Kinnlade wäre jetzt die richtige Antwort, aber ich bin ja GFK-Trainerin. „Komm du mir noch einmal!“
Marshall Rosenberg bezeichnet die Wut als Sekundärgefühl. Sie beruhe auf Gedanken und dahinter lägen andere Gefühle. Das mag stimmen, doch man stelle sich folgende Szene vor. Dein Freund steht aufgebracht vor dir und platzt förmlich vor Wut, und du erzählst ihm: „Bist du traurig, Schatz? Du weißt, Wut ist ein Sekundärgefühl.“ Mal ehrlich, selbst wenn das stimmt, zur Gewaltfreiheit des folgenden Konflikts trägt diese Aussage nicht bei. Echte Wut ist sofort da und man sollte sie sehr ernst nehmen. Es gibt auch eine Sekundärvariante, aber die meine ich gerade nicht. Ich meine die glasklare Primärwut. Es könnte eine gute Idee sein, das eine vom anderen zu unterscheiden.
Die Autorin Vivian Dittmar stellt in „Gebrauchsanweisung für Gefühle“ die These auf, dass nicht nur die Wut, sondern alle Gefühle auf gedanklichen Bewertungen beruhen. Gefühle sind die emotionale Bewertung der Situation. Die Wut sagt: „Das ist falsch! So nicht!“ Wutenergie sei Handlungsenergie, so genutzt, kann sie konstruktiv sein. Regt man sich permanent auf, verkehrt man die Kraft der Wut in ihr Gegenteil. Sie wird zum Gift, das dauerhaft den Körper und das soziale Umfeld flutet. Geteilte Wut ist doppelte Wut, ganz anders als das Leid, das sich beim Teilen halbiert. Im Zorn, in der Primärwut macht man nicht viel Worte. Wie bei der Mutter, die vor mir an der Kasse steht und ihrem Sohn am Handy eine klare Ansage macht: „Sieh zu, dass du deinen Arsch sofort nach Hause bewegst!“ Wut, Handlung, fertig! Hier zeigt sie ihre Wirksamkeit, wenn andere etwas tun oder nicht tun sollen.
„Sich aufregen“ könnte da schon besser zum Wort „Sekundärgefühl“ passen. „Sich aufregen“ ist auch eine Art Wutenergie. Die einzige Handlung ist die Mundbewegung, und die Person, die sie trifft, ist nicht die, die was tun könnte oder tun sollte. Wer sich aufregt, will sich in erster Linie aufregen, nichts ändern. Diese Energie kann süchtig machen. Man fühlt sich so herrlich rechtschaffen, das Blut pocht in den Adern und die anderen springen auf den Zug auf und regen sich ebenfalls auf. Gerne übersehen wir, dass dauerhafte Wutenergie im eigenen System Gift ist. Eine hinduistische Weisheit zeigt das Dilemma: „Wer den Tiger reitet, sollte nicht absteigen.“ Dann frisst er nicht mehr die anderen, sondern einen selbst. Das heißt, sitzt man auf dem Tiger und regt sich auf, dann kann man nicht aufhören. Doch Absteigen ist durchaus eine konstruktiv Lösung, auch wenn sie im ersten Moment unangenehm ist.
Kurt, ein Tischlermeister und Teilnehmer eines meiner GFK-Workshops, steht auf dem Tanzparkett*. Auf die Frage „Was für Urteile hast du?“ erzählt er mir ausführlich, was an seinem Kollegen falsch ist. Er reitet den Tiger gut, er weiß sich aufzuregen. Also bitte ich ihn abzusteigen und frage: „und… was für Urteile hast du gegen dich selbst?“ Er überlegt, lange, aber dann fallen ihm einzelne Sätze ein. Man merkt, dass das ungewohnt ist. „Ich hätte ihn informieren sollen! Ich habe ihn hängen lassen!“ Im Nachgespräch erwähnt er genau diesen Moment: „Plötzlich konnte ich Empathie für ihn empfinden. Ich sah meinen Anteil und bekam eine Idee, wie es ihm ging.“ Der Prozess mit der Wut kann auch andersherum verlaufen. Die Teilnehmerin Angela zerfleischt sich in Selbstvorwürfen und kommt gar nicht auf die Idee vom Rachen ihres Tigers einen Schritt zurückzutreten. Also hilft nur eins, aufsteigen. Auch sie ist es nicht gewohnt, Urteile über andere zu formulieren. Auch sie braucht lange, bis von der Aussage „Was bin ich für eine schlechte Mutter!“ zu „Was für ein ungehobeltes Verhalten!“ kommt. Aber dann ist die Wut da und mit ihr die Klarheit: „So Freundchen, du kommst sofort her und verabschiedest dich anständig von deiner Mutter!“
Was passiert also, wenn wir den Tiger reiten lernen? Einerseits stehen wir zu unserem Anteil, andererseits gestehen wir uns ein, dass wir nicht für alles verantwortlich sind. Und das gelingt uns in dem Moment, in dem wir ohne Urteil die eigenen Urteile annehmen. Solange wir anderen die Schuld geben, solange sind wir das Opfer, selbst wenn der Zeigefinger auf uns selbst zeigt. Der Shift kommt, wenn wir (wieder) für unser Tun die Verantwortung übernehmen. Und der GFK-Prozess bietet einen Weg, wie man an diesen Punkt kommen kann.
Jeder und jede von uns, braucht eine gute Beziehung zu ihrem Tiger, es nützt nichts, ihn als Sekundär-Tiger zu bezeichnen. Wir müssen ihn reiten lernen und dazu gehört das Absteigen und das Aufsteigen. Und damit beides gelingen kann, muss eines klar sein: Du bist der Boss, nicht der Tiger! Du bist das Handlungszentrum! Du entscheidest, mit welchen Mitteln du in den Ring steigst. Und, du entscheidest, wo deine Grenzen sind!
Kurz, klar und jetzt.
*Das Tanzparkett sind Bodenanker, die durch die 4+1 Schritte der GFK führen (Wolfsshow, Beobachtung, Fühlen, Bedürfnisse, Bitte).